Das geistliche Lied "
Es
wollt
ein
Jäger
jagen" ist im 16. Jahrhundert
nach
einer weltlichen Vorlage
entstanden. Inhaltlich geht
es
um die Verkündigung der Geburt Christi. "Der geistliche
Jäger", wie der Titel d
es
Lied
es gelegentlich heißt,
verbreitete sich in der Frühen Neuzeit schnell als Adventslied und wurde
in vielen unterschiedlichen Fassungen gedruckt.
I. "Der geistliche
Jäger" thematisiert die
sogenannte "Annuntiatio", also
die Verkündigung der geistgewirkten Empfängnis an Maria (Festtag
25. März; Tagesevangelium Lk
1,16–38). Gekleidet ist diese
Verkündigung in das Motiv von der geistlichen Jagd, die im Mittelalter
und der Frühen Neuzeit mit dem Fabeltier des
Einhorns verknüpft war. Auch
wenn in der ältesten Fassung
des Liedes
(Edition
B) dieses Tier nicht
ausdrücklich genannt wird, ist der Bezug offenkundig, wie bildliche
Darstellungen auf entsprechenden Liedflugblättern (beispielsweise Basel
1569;
Abb. 1) und spätere Textfassungen belegen (Beuttner 1602;
Edition D).
II. Die weltliche Vorlage stellt das Lied "Es
wollt
ein
Jäger
jagen / vor jenem Holz" dar,
das im 16. Jahrhundert in zahlreichen, stark abweichenden Fassungen
verbreitet war. In der wohl ältesten,
vielstrophigen Fassung wird nicht nur das Thema vom
Jäger und den drei Frauen
entfaltet, sondern auch ausführlich der Verlust der Jungfräulichkeit
erzählt (Edition
A). Der unbekannte Dichter der geistlichen Umdichtung greift diese
Thematik auf, verkehrt sie aber ins Gegenteil: Die von ihm erzählte
Empfängnis ist nicht nur gottgewollt,
sondern bewahrt auch die Jungfräulichkeit Mariens (Edition
B).
III. Eine neue geistliche
Fassung des weltlichen Liedes
stellte Heinrich Knaust 1571
in seinen "Gassenhawer,
Reuter, vnd Bergliedlin, christlich moraliter vnnd sittlich verendert"
vor (Edition
C). Seine Vorlage war
möglicherweise eine
vierstrophige Dichtung, bei der nach der Heimführung des
Mädchens die Erzählung abbricht. In Knausts Bearbeitung werden die drei
Mädchen der weltlichen Vorlage allegorisch auf die Tugenden Glaube,
Liebe und Hoffnung bezogen. In Übereinstimmung
mit dem Apostel Paulus wird die Liebe als die größte unter ihnen besungen
(1 Kor 13,13). Diese
Umdichtung spielte in der weiteren Rezeptionsgeschichte
jedoch zunächst eine
untergeordnete Rolle.
IV. Das Lied erfuhr seit Mitte des
16. Jahrhunderts eine starke
Verbreitung, vor allem durch Flugblätter und Gesangbücher,
in denen es meist als
Adventslied erschien. Sein
Bekanntheitsgrad zeigt sich auch darin, dass die Melodie als Tonangabe
für andere Lieder diente (z. B. 1626 zu "Es
kommt ein Schiff geladen").
Im "Catholisch Gesang-Buch"
von Nikolaus Beuttner (Graz 1602) wurde das Lied erweitert: Neben dem
mittelalterlichen Motiv von den vier allegorisch ausgedeuteten "Windspielen"
(Jagdhunden) und dem Einhorn
werden spezifisch katholische bzw. gegenreformatorische Akzente gesetzt
(Edition
D). Dazu gehört die altkirchliche, aber im 16. Jahrhundert neu
akzentuierte Lehre von der Jungfräulichkeit Mariens
ante partum, in
partu und
post partum (vor, in und nach
der Geburt) sowie die Anrufung Mariens um Fürbitte. Die 13. Strophe
verdeutlicht zudem, dass der Gesang
bei Wallfahrten gebraucht werden sollte. Die zweite Melodiezuweisung von
Beuttner, nämlich diejenige zum Laurentius-Lied, scheint
die im 17. Jahrhundert verbreitete zu sein.
Andere Gesangbücher nehmen diese
Melodie auf oder bieten Varianten.
V. Mitte des 17.
Jahrhunderts scheint die
Überlieferung des geistlichen
Liedes abzureißen. Vermutlich
entsprach es weder
poetologisch noch in seiner
Bildlichkeit dem gewandelten Geschmack
der Zeit. Mit diesem
Einschnitt ist auch das Ende
der Gesangbuch-Rezeption
markiert – bis heute.
VI. Im 19. Jahrhundert wurde das geistliche wie das weltliche Lied
von Romantik und Wissenschaft wiederentdeckt und in zahlreiche
Anthologien und Editionen aufgenommen, angefangen mit "Des
Knaben Wunderhorn" (Heidelberg 1806). Dort sind beide geistlichen
Fassungen, auch diejenige von Knaust, wiedergegeben. Andere Herausgeber
und Wissenschaftler (Uhland 1845, Hoffmann von Fallersleben 1861)
folgten und druckten ebenfalls den "geistlichen
Jäger" ab.
Ein weiteres
herausragendes Zeugnis der
Rezeptionsgeschichte stellt
die Vertonung durch Johannes
Brahms dar (im Rahmen seiner
"Marienlieder" op. 22,4 und in den "Deutschen Volksliedern" WoO 34,14),
und zwar in Anlehnung an die Melodiefassung von Beuttner.
VII. Im 20. Jahrhundert erlebte das Lied
eine gewisse Renaissance
durch die Integration in Gebrauchsliederbücher der Jugend- und
Singbewegung. Im "Neuen Wunderhorn" (Berlin, nach 1906) ist das Lied mit
einer Illustration versehen,
das die alte Einhorn-Motivik
aufgreift und mit zeitgenössischen Jugendstilelementen kombiniert (Abb.
2). Die dort abgedruckte Melodie ist
eine freie Nachbildung aus
dem Paderborner Gesangbuch
von 1617 und geht damit auf den Beuttner-Typus zurück. Kurz nach dem
Ersten Weltkrieg erscheint in
archaisierender Aufmachung (Vignetten, Typographie, Titel: "Alte Lieder
fürs Landvolk") eine Fassung,
die der Wiener Volksliedforscher Raimund Zoder (1882–1963) in
Niederösterreich aufgezeichnet hat. Stofflich lehnt sich diese
Dichtung an Knaust an, auch wenn die Verarbeitung des
Motivs von den christlichen Tugenden sehr unterschiedlich ist (Edition
E).
MICHAEL FISCHER
(Februar 2006 / Juni 2007)
Editionen und Referenzwerke
|
Rölleke/Wunderhorn 1975, Bd. 6, S. 130-132; Bd. 9-1, S. 275-278. |
|
Erk/Böhme 1894, Bd. 3, S. 633f. (Nr. 1925); s. auch S. 296f. (Nr.
1435). |
|
Bäumker 1886. Bd. 1, S. 260f. (Nr. 18). |
|
Wackernagel 1867/1874, Bd. 2, S. 912-914 (Nr. 1137-1139); Bd. 4,
S. 783f. (Nr. 1166). |
|
Hoffmann von Fallersleben 1861, S. 396f. (Nr. 234). |
Weiterführende Literatur
| Uta Henning: Zur "mystischen
Einhornjagd" in Friesach:
"Gut Jäger durchs Himmels
Thron". Eine
spätmittelalterliche Bild- und Liedmetapher. In: Carinthia I 189
(1999), S. 177–200. |
| Jürgen W. Einhorn:
Spiritualis unicornis. Das Einhorn
als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des
Mittelalters. München 21998, bes.
288–308. |
| Friedrich Zillmann: Zur Stoff- und Formgeschichte
des Volksliedes
"Es
wollt
ein
Jäger
jagen". Berlin 1920 (nur
zum weltlichen Lied). |
Quellenübersicht
| Ungedruckte Quellen: vergleichsweise wenige Aufzeichnungen aus
mündlicher Überlieferung, einzelne
handschriftliche Aufzeichnungen |
| Gedruckte Quellen: verschiedentlich auf Flugschriften,
gelegentlich in Gebrauchsliederbüchern, sehr selten in Kirchengesangbüchern,
etliche sonstige Rezeptionsbelege |
| Bild-Quellen: verschiedene Liedillustrationen |
| Tondokumente: einzelne
Tonaufzeichnungen |
Berücksichtigt werden hier primär Quellen, die im Deutschen
Volksliedarchiv (DVA) erschlossen sind. Darüber hinaus wurden auch die Bestände
des Gesangbucharchivs
Mainz miteinbezogen.
Zitiervorschlag
Michael Fischer: Es
wollt
ein
Jäger
jagen, wohl in des
Himmels Thron (2007). In: Populäre und traditionelle Lieder.
Historisch-kritisches
Liederlexikon. URL: <http://www.liederlexikon.de/lieder/es_wollt_ein_jaeger_jagen_wohl_in_des_himmels_thron/>.
© Deutsches
Volksliedarchiv